Erinnerungen: Geiselnahme

Generalmajor i.R. Manfred Schmidbauer erinnert sich an die Vorgänge rund um die Geiselnahme.

Im Zentrum dieser Vitrine sehen Sie einen umfangreichen Zeitungsbericht dieser Geiselnahme, mit meinem Foto, wo ich jene Pumpgun in den Armen halte, die mir der Täter nach seiner Aufgabe übergeben hatte, weiters den Geiselnehmer, der sich fotoscheu die Hand vor das Gesicht hält, dann das Foto von der Geisel Margit H. und vom Gemeindearzt Dr. K. Zu sehen sind noch einmal die Pumpgun, eine mit grobem Schrot gefüllte Patrone wie sie der Täter verwendete und das aufgeschossene Schloss der Haustüre.

Wie ist es zu dieser Geiselnahme gekommen?

Es war der 17. September 1988. Ich war mit meiner Frau Inge und meinem jüngeren Sohn Joachim zu Besuch in meinem Elternhaus in Gallneukirchen. Wie üblich gingen wir, meine Familie und mein Stiefvater im Wald spazieren. Es war etwa gegen 16.00 Uhr als mein Personenrufgerät anschlug. Ich lief sofort zum nächstgelegenen Haus und ersuchte telefonieren zu dürfen. Handy gab es damals für uns noch nicht. Der Journaldienstbeamte der Kriminalabteilung sagte mir, dass es in Gallneukirchen eine Geiselnahme gebe. Ich gab sofort die hierfür notwendigen Anweisungen und sagte, dass ich ohnehin in Gallneukirchen sei und die Einsatzleitung übernehme. Daraufhin fuhr ich mit meinem Privat-PKW zum Tatort. Ich war einigermaßen erstaunt, das Tathaus war nämlich mein Geburtshaus, in dem ich bis zu meinem Schuleintritt aufgewachsen bin. Natürlich waren viele bauliche Veränderungen, so dass ich keine genauen Ortskenntnisse mehr hatte. Auf der Straße vor dem Haus standen bereits einige uniformierte Kollegen des Gendarmeriepostens Gallneukirchen. Im Hof des Tathauses kam eine aufgeregte Frau auf mich zu und sagte: „Der Horst hat meine Tochter in seiner Gewalt, er ist zu allem fähig. Horst ist der Ex-Freund meiner Tochter Margit. Er hat eine Pumpgun. Mit dieser hat er bereits die Haustüre aufgeschossen. Jetzt fordert er einen Kombi oder Kleinbus. Damit will er mit der Margit wegfahren.“ Das waren meine ersten Informationen. Nun wollte ich bis zum Eintreffen meiner Leute die Lage erkunden. Ich schlich mich über eine Stiege hinauf in den ersten Stock. Vor mir lag ein Gang 1,23 Meter breit und 8 Meter lang. Im gleichen Augenblick wie ich in diesen Gang trat, kam der Geiselnehmer mit angeschlagener Waffe um die Ecke, also 8 Meter von mir entfernt. Mein Glück war, dass er nicht sofort schoss. Ich machte „Hände hoch“ und sagte: „Horst, ich möchte mit dir reden.“ Nach einigem Hin und Her erlaubte er mir, näher zu kommen. Zuvor musste ich meine Jacke ausziehen, damit er sehen konnte, dass ich unbewaffnet war. Auch mein Personenrufgerät musste ich ablegen, weil er glaubte, es sei eine Waffe. Ab diesem Zeitpunkt war auch ich Geisel. Horst ließ mich nicht in seine Nähe kommen und hielt den Lauf der Waffe ständig auf mich gerichtet. Er drohte, dass er mich bei der kleinsten Bewegung, die er mir nicht erlaubt, erschießen werde. Im Wohnzimmer in dem wir uns befanden war auch seine erste Geisel, Margit H. Diese saß total fertig auf der Couch. Nun sagte mir Horst seine Forderungen. Er verlange einen Kastenwagen. Mit dem wolle er gemeinsam mit Margit flüchten. Er möchte sich mit ihr noch ein paar schöne Stunden machen. Anschließend wolle er erst Margit, die er über alles liebe und dann sich selbst erschießen. Er habe mit seinem Leben abgeschlossen. Die Margit habe er so unheimlich gern, dass er mit ihr sterben werde. Ein anderer Mann dürfe Margit nie bekommen, sie gehöre nur ihm allein. Dieser Plan stehe so fest, dass ihn niemand daran hindern werde. Nachdem er ja mit dem Leben abgeschlossen habe, werde er die Ausführung seines Vorhabens mit der Waffe erzwingen. Er werde jeden erschießen, der sich ihm in den Weg stellt. Margit H. sagte mir, sie halte diese enge, fast krankhaft auf sie fixierte Liebesbeziehung nicht mehr aus. Deshalb habe sie Schuss gemacht. Nur Horst wolle das nicht zur Kenntnis nehmen. Mit dieser Entscheidung hätte sie beinahe ihr Todesurteil unterschrieben. Nach einiger Zeit kam mein Kollege Manfred B. von der Mordgruppe und rief uns von besagter Stiege aus an. Horst wollte ihn nicht zu uns kommen lassen. Ich sagte aber, den brauchen wir unbedingt zur Besorgung des von ihm gewünschten Autos. Ab diesem Zeitpunkt musste sich Manfred B. in der Ecke des Wohnzimmers aufhalten und den Platz nicht verlassen. Nun versuchte ich mit Horst ins Gespräch zu kommen. Er war total unberechenbar. Vorerst drohte er mir an, mich sofort zu erschießen, wenn das geforderte Auto nicht in allernächster Zeit zur Verfügung stünde. Ich versuchte ihn vorerst von der Sinnlosigkeit seines Handelns zu überzeugen, merkte aber sehr bald, dass ich ihn dadurch nicht beruhigen konnte, ja eher das Gegenteil.

Eine Redepause konnte ich mir kaum erlauben, weil ich dann immer das Gefühl hatte, jetzt macht er Schluss, jetzt schießt er. Nun versuchte ich ihn über sein Leben auszufragen. Damit konnte ich ihn kurzfristig ablenken. Nach einiger Zeit sprach er nicht mehr von dem Auto, das er vorher gefordert hatte. Nun sagte er, er habe seinen Plan geändert. Er habe nun nicht mehr vor den Raum zu verlassen und werde zuerst uns, dann die Margit und letztlich sich selbst hier im Wohnzimmer erschießen. Nach etwa zwei Stunden, ich redete ununterbrochen mit Horst, weil ich annahm, dass er wie bereits erwähnt schießen werde, sobald ich zu reden aufhörte, fiel Margit von der Couch. Sie war ohnmächtig geworden. Die ständige Angst und den immensen Druck konnte sie offensichtlich nicht mehr verkraften. Ich sagte: „Du musst mir erlauben einen Arzt zu rufen, sie stirbt sonst.“ Diese Erlaubnis erteilte er mir. Ich rief den Gemeindearzt von Gallneukirchen, Dr. Gerd K. an, mit dem ich aufgewachsen bin, den ich persönlich kannte. Der Arzt konnte anstandslos zu uns kommen. Er gab Margit eine Spritze, so dass sie wieder zu Bewusstsein kam. Der Arzt musste daraufhin die Wohnung wieder verlassen. Horst hatte die ganze Zeit mit dem Gewehr im Anschlag die Situation verfolgt. Jetzt aber gingen die nervenaufreibenden Gespräche wieder weiter. Ich war schon ganz heiser, aber ich merkte, dass er Vertrauen zu mir gewann. Ich interessierte mich wieder verstärkt um seinen Lebenslauf. Dabei brachte ich ihn soweit, dass er mir von sich erzählte. Das verschaffte mir etwas Luft. Aber immer dann, wenn ich glaubte, jetzt kann ich ihn zum Aufgeben bewegen, schaltete er unberechenbar um und ich brauchte wieder einige Zeit, um ihn zu beruhigen. Immerhin bekam ich durch seine Aussagen ein Bild von seiner Kindheit und dem Jugendalter, das ein sehr trauriges war. Seine Mutter hatte ihn verschenkt, er wuchs in verschiedenen Kinderheimen auf. Aber nun hatte er zum ersten Mal in seinem Leben Glück, und zum ersten Mal hat er durch Margit eine echte Liebe verspürt. Mir tat der Bursche fast leid. Ich sagte ihm, dass er für mich ein genauso wertvoller Mensch sei, dass alles was bisher geschehen ist nicht irreparabel sei, dass ich mich für ihn bei Gericht einsetzen werde und so fort. Oftmals glaubte ich wieder, dass meine Worte Wirkung zeigten. Doch dann war er wieder so unberechenbar und wild entschlossen, allem ein Ende zu bereiten. Ich sagte ihm auch, dass ich einen Sohn habe der etwa im gleichen Alter wie er sei, dass ich seinen bisherigen Lebensweg bedauere, aber dass es ja nicht zu spät sei für einen Neubeginn, er sei ja noch so jung. In dieser Tonart ging es weiter, Stunden um Stunden. Nach etwa sechs Stunden, ich hatte bereits jeden Zeitbegriff verloren, hatte ich das Gefühl, dass er zu Aufgabe bereit wäre. Ich nahm nochmals alle Argumente zusammen und hatte wirklich Erfolg. Er sagte, wenn er sich auf mich verlassen könne, dass ich auch vor Gericht für ihn eintrete, gebe er auf. Ich wiederholte mein Versprechen, denn es war mir sicher ernst damit. Daraufhin sagte er zu mir, er möchte zehn Minuten mit Margit alleine sprechen, dann gebe er auf. Ich sagte ja, unter drei Bedingungen: „Die Margit muss einverstanden sein, du gibst mir vorher die Pumpgun, und die Tür zum Schlafzimmer muss offen bleiben, weil ich für die Sicherheit der Margit verantwortlich bin.“ Sowohl Margit als Horst waren einverstanden. Er gab mir die Waffe und das kurze Gespräch mit Margit im Schlafzimmer beendete diese Ausnahmesituation. Der Rest war Routine. Vor Gericht stand ich zu meinem Wort und setzte mich voll für Horst ein. Er bekam vier Jahre Freiheitsstrafe. Horst wurde während der Haft auch psychologisch betreut. Durch seinen Psychologen bedankte er sich nochmals bei mir für die faire Behandlung und zu einem besonderen Dank fühle er sich auch deshalb verpflichtet, weil ich ihm wieder einen Weg in die Zukunft eröffnet habe. Oft wurde ich gefragt, ob ich in diesen sechs Stunden Todesangst gehabt hätte. Ich muss ehrlich sagen, dass man solchen Situationen so angespannt und auf die Lage konzentriert ist, dass man eigentlich keine Furcht verspürt. Das was man Angst nennt, kam bei mir erst etwa drei Tage später. Da wurde mir erst so richtig bewusst, in welcher Lage ich mich befunden hatte, dass mein Leben an einem seidenen Faden gehangen hatte. Was wäre dann aus meiner Familie, meiner Frau und meinen beiden Söhnen geworden. All diese Gedanken plagten mich. Vor allem in Ruhezeiten, wo ich Muße zum Nachdenken hatte. Psychologische Betreuung ? – nein, die gab es nicht. Über diesen Fall habe ich auch in meinem Buch „Mörder, Räuber & Gendarm geschrieben.